Nichts als die Wahrheit: Wieviel Ehrlichkeit verträgt eine Beziehung?

Nichts als die Wahrheit: Wieviel Ehrlichkeit verträgt eine Beziehung?

„Ehrlich währt am Längsten!“, „Lügen haben kurze Beine!“: Ehrlichkeit ist eine Tugend und eine hochgelobte noch dazu. Wir wollen nicht belogen werden, doch „mal ehrlich“, wer bitteschön ist schon immer ehrlich?

Absolute Ehrlichkeit gehört für rund 41 Prozent der Frauen und Männer zu den wichtigsten Punkten, damit eine Beziehung funktioniert. Merken Sie etwas? Das ist nicht mal die Hälfte! Laut der Studie von Statista aus dem Jahre 2015 liegt der Stellenwert von Ehrlichkeit in einer Beziehung damit dennoch direkt hinter dem Allerwichtigsten, nämlich Vertrauen, das von 77 Prozent der befragten Frauen und Männer als essentiell für eine gute Beziehung erachtet wird. Nun könnte man sich fragen, ob Vertrauen nicht Ehrlichkeit bedingt und umgekehrt, Fakt ist jedoch, dass gerade in länger bestehenden Beziehungen oft vertuscht und geflunkert wird, dass sich die Balken biegen. Und manchmal ist das gar nicht schlecht, aber dazu später mehr.

Wir sind doch fast alle kleine Lügner – Sie vielleicht auch?

Ehrlichkeit ist eine Tugend. So wurde das auch mir beigebracht und ich muss sagen, auch für mich ist Ehrlichkeit heute noch eine der wichtigsten Tugenden überhaupt. Heutzutage halten Eltern Ehrlichkeit mit 82 Prozent immer noch für ein besonders wichtiges Erziehungsziel, auch dies geht aus der Studie zum Thema Ehrlichkeit hervor. Nur mit der Umsetzung hapert es im Alltag dann doch etwas. Kein Mensch sagt den ganzen Tag die Wahrheit. Das beginnt schon mit kleinen „Notlügen“. Die Kollegin kommt mit neuer Frisur ins Büro und keiner wird ihr sagen, dass sie den Rechtsstreit mit ihrem Friseur sicher gewinnen wird. Den Kumpel, den man seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat, würde man auch nicht mit einem „Na, ein bisschen klein für Dein Gewicht geworden?“ begrüßen.

Wie oft lügen wir eigentlich so den lieben langen Tag? Im Internet kursiert die Zahl „200“, aber keiner weiß, woher sie kommt, also ist das wahrscheinlich auch schon wieder gelogen? Unter den 18- bis 34-Jährigen sind übrigens laut Robert Feldman von der Universität Massachusetts besonders viele Lügner auszumachen, während sich im vorangeschrittenen Alter zunehmend die Weis- und Wahrheit des Alters durchzusetzen scheinen. Hoffentlich liest das auch mein Chef!

Ehrlichkeit in Beziehungen: Am Anfang macht Wahrheit Spaß …

… und wir geben nach und nach alle unsere „Geheimnisse“ preis. Das fühlt sich zu Beginn einer Beziehung noch sehr besonders an. Da macht uns Ehrlichkeit noch wahnsinnig glücklich. Man vertraut sich gegenseitig die bestgehüteten Geheimnisse und tiefsten Sehnsüchte an und schwebt auf Wolke sieben. Auch Fehler, Missgeschicke und jedwede Schandtaten. Weil: Ab jetzt machen wir ja alles besser, die Karten werden neu gemischt, alles ist auf Null gesetzt. Auf diese Art machen wir große Teile unserer Persönlichkeit transparent. Wir sind eins mit dem Partner, haben keine Geheimnisse voreinander und fühlen uns pudelwohl dabei. Wie lange dieser Zustand anhält, wissen manche vielleicht aus eigener Erfahrung. Einen Strich durch die blütenreine Wahrheit macht uns – wie so oft – der Alltag.

Ehrlichkeit in der Beziehung ist wichtig – aber die Dosis macht auch hier das Gift

Grundsätzlich wünschen sich fast alle Frauen und Männer, dass der Partner ehrlich zu ihnen ist. Doch im Wandel der Zeit und somit auch der Beziehungen gibt es vermehrt Stimmen, die Ehrlichkeit eben nicht als das Nonplusultra betrachten. Denn es gibt auch eine Ehrlichkeit, die zu viel ist. Weil sie einfach nicht nennenswert ist, weil sie Dinge verkompliziert oder sogar verletzen kann.
Und das gilt übrigens nicht nur für Beziehungen. Immer alles zu sagen, kann sehr verletzend sein. Wahrheit kann schmerzhaft sein und kränken. Wer jedem schonungslos seine Meinung sagt und Urteile aufzwingt, gespickt mit dem Argument „Ich bin nun mal immer ehrlich!“, der lässt oftmals Taktgefühl vermissen und weiß nicht, wie man Empathie schreibt. Diese ungefragte Ehrlichkeit ist schlichtweg ein Alibi, um Egoismus auszuleben, solche Menschen interessiert nicht, wie sich der andere dabei fühlt.

Flirts darf man für sich behalten – auch in ehrlichen Beziehungen

In grundlegenden partnerschaftlichen Dingen sollte allerdings in einer festen Beziehung schon Einigkeit herrschen, unser Partner ist schließlich unsere Vertrauensperson. Doch manche Paare wissen genau, welche Heimlichkeiten für den anderen akzeptabel sind und welche nicht. Wir müssen unserem Partner nicht gleich von jedem kleinen Flirt an der Ampel, am Arbeitsplatz oder im Bus erzählen. So etwas darf mein kleines Geheimnis sein, das mir den Tag versüßt.

Jeder will Ehrlichkeit doch nicht jeder verkraftet die Wahrheit

Interessanterweise sind Paare besonders ehrlich zueinander, wenn Meilensteine in der Beziehung anstehen. Bevor der Bund der Ehe geschlossen wird, kommen Frauen und Männer oft auf die Idee, dem Partner vorher nochmal die „Sünden zu gestehen“. Das ist allerdings in der Tat nicht unbedingt eine gute Idee und der Schuss kann ordentlich nach hinten losgehen. Wer da jetzt meint, er müsse alte Kamellen auspacken, wie zum Beispiel wilde Sexgelage, notorische Untreue in der vorhergehenden Beziehung oder die Dreier-Erfahrung mit der ehemaligen Kollegin (die einem womöglich immer noch ab und zu über den Weg läuft), der überfordert mit diesem Bekenntnis seinen Partner nicht selten völlig. Gut möglich, dass man sich dann die Kosten für die Hochzeit sparen kann. Es ist also nicht immer erforderlich, alle Wahrheiten auf den Tisch zu legen, in manchem Falle bringt das keinem was.

Nicht alles zu wissen kann uns gut tun

Wir können nicht jedem hinter die Stirn schauen. Aber das ist doch auch gar nicht notwendig, oder? Wer will schon alles über seinen Partner wissen? Mich interessiert nicht alles, was meinem Partner so im Kopf herumschwirrt. Jeder ist eine eigenständige Persönlichkeit. Und ich möchte doch auch die Autonomie meiner Person bewahren. Außerdem: Wie war das mit „die Gedanken sind frei“?
Menschen, die über jeden Schritt des Partners informiert sein wollen setzen diesen sehr unter Druck. Meist sind das sehr unsichere Menschen, die unter großer Eifersucht leiden. Nicht hinter jedem Telefonat des Partners steckt gleich eine neue Liebe. Wer vom anderen minutiös wissen will, wo und mit wem er gerade unterwegs ist, überhaupt, was er macht oder auch noch denkt, wird nur erreichen, dass sich der Partner mehr und mehr zurückzieht. Es soll sogar Menschen geben, die sämtliche Passwörter des Partners wissen wollen – und sie tatsächlich auch benutzen. Schlimmstenfalls brockt man sich damit eine Suppe ein, die man gar nicht mehr auslöffeln kann. Nämlich dann, wenn der Partner den Kontrollzwang satt hat und die Beziehung beendet.

Es gibt kein Leben ohne Geheimnisse – schon gar nicht was Liebe, Sex und Partnerschaft betrifft

Leidenschaftlicher Sex im Hier und Jetzt, voll und ganz auf den Partner und das gemeinsame Erleben fixiert, ist etwas Großartiges. Aber viele – sehr viele – von uns haben auch beim Sex mit dem Partner sicher ab und zu schon gedanklich ihre ganz eigenen Fantasien einfließen lassen. Das macht den Sex mit dem Partner nicht weniger erfüllend und schön, doch teilen wir ihm diese Fantasien auch gleich mit? Manchmal kann das natürlich noch extra anregend sein, manchmal aber auch das Gegenteil: Der Partner könnte sich unwohl oder gar verletzt fühlen. Es kommt also immer darauf an, warum wir etwas verschweigen, das Motiv ist entscheidend. Sogar Paartherapeuten und andere Experten auf diesem Gebiet sind der Meinung, dass es nicht unbedingt gut ist, wenn Partner alles voneinander wissen.
Der Neurologe und Psychiater Alan Hirsch entdeckte übrigens, dass beim Lügen mehr Blut in die Nase läuft, als sonst. Aha, ich wusste es, es gibt ihn also doch, den Pinocchio-Effekt. 😉

 

Der verlorenste aller Tage ist der, an dem man nicht gelacht hat.

Ihre Irene

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