Harmoniebedürftig? Warum Ja-Sager auch mal streiten sollten

Harmoniebedürftige wollen bloß keinen Streit provozieren

Lächeln und immer schön Ja sagen: Wer harmoniebedürftig ist, möchte Konflikte und Streitigkeiten völlig vermeiden, aus Angst, sonst nicht geliebt zu werden. Dabei bleiben die eigenen Bedürfnisse aber auf der Strecke …

Friede, Freude, Eierkuchen: In zwischenmenschlichen Beziehungen, Freundschaften und besonders in der Liebe ist es natürlich am angenehmsten, wenn sich alle einig sind. Wer will schon Streit und Ärger, wenn man gerade frisch verliebt ist oder schöne erotische Stunden mit der Affäre verbringen will? Andererseits liegt es in der Natur der Sache, dass Menschen auch mal nicht einer Meinung sind oder unterschiedliche Bedürfnisse haben. Wer aber jedes Mal seinen eigenen Wünsche zurückstellt oder seine Meinung gar nicht erst äußert aus Angst, den anderen zu verletzen, nicht mehr gemocht zu werden oder such zu streiten, hat auf Dauer das Nachsehen. Denn eine so ausgeprägte Harmoniesucht oder auch Harmoniebedürftigkeit führt dazu, dass wir von anderen nicht ernst genommen werden. Und viele empfinden es auch als geradezu nervtötend, wenn der andere immer nur Ja und Amen sagt. Viel befreiender ist ein reinigendes Gewitter, denn auch in der Liebe darf es ruhig mal krachen, solange man sich danach wieder versöhnt.

Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb

Frauen sind besonders oft harmoniebedürftig, aber auch die Herren der Schöpfung können konfliktscheu sein. Man erkennt sie daran, dass sie grundsätzlich lächeln, viel mit dem Kopf nicken und häufig Sätze sagen wie „Ja, das finde ich auch“, „Wie du magst“, „Da hast du recht“ oder „Was ich gerne essen würde? Worauf hast du denn Lust?“.
All dies entspringt dem Bedürfnis, mit seinen Mitmenschen vollständig konfliktfrei zu leben. Man selbst geht jeder Auseinandersetzung aus dem Weg und vermeidet tunlichst alles, was einen Streit provozieren könnte. Auch wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, wird große Zurückhaltung geübt und ganz harmoniebedürftig gehandelt. „Ich weiß oft selbst gar nicht, was ich eigentlich will“, erzählt Petra (42). „Meistens ist mir ja vor allem eines wichtig: dass mein Mann zufrieden ist. Wenn wir zum Beispiel ausgehen und er mich fragt, in welches Restaurant ich gerne möchte, frage ich ihn nach seinen Wünschen oder schlage dann das vor, von dem ich glaube, dass er es selbst am liebsten möchte. Es wär sehr schwierig für mich, wenn ich das Gefühl hätte, dass er nur mir zuliebe mit zum Chinesen geht, obwohl er eigentlich lieber ein Steak will.“
Menschen wie Petra möchten es allen recht machen. Nur sich selbst nicht. Ihnen ist es wichtiger, beliebt zu sein als glücklich. Klingt hart? Ist aber unterm Strich so.

Harmoniebedürftig als Problem

Wer ständig im Kopfnick- und Ja-sag-Modus unterwegs ist, macht es seinen Mitmenschen nicht etwa leicht, sondern schwer. Der Partner weiß nämlich nie so recht, woran er gerade ist. Ist es die ehrliche Meinung, die er gerade hört? Oder wird nur um des lieben Friedens willen Ja gesagt? „Ich weiß nie, ob sie wirklich Lust darauf hat, wenn ich etwas vorschlage”, klagt Jens (46). „Ganz egal, ob es um Sex geht oder Urlaub am Meer, einen Konzertbesuch oder die Anschaffung einer Gartenschere: Simone will immer das, was ich auch will. Sagt sie jedenfalls. Und sie äußert anderen gegenüber stolz, dass wir uns nie streiten. Ich finde aber gar nicht, dass das ein besonders Gütesiegel für eine Beziehung ist. Mir wäre es tausendmal lieber, wenn sie auch mal ihre eigene Meinung sagen würde. So aber habe ich das Gefühl, dass sie ständig ihre Gefühle und Bedürfnisse unterdrückt.“
Was Jens beschreibt, ist ganz typisch. Harmoniebedürftige Menschen haben oft ausgeprägte Verlustängste. Sie befürchten, nicht mehr geliebt zu werden, wenn sie die magischen Worte „Nein“ oder „Ich will aber …“ aussprechen. Und kurioserweise schätzen sie gerade diese Fähigkeit bei anderen. „Ich weiß ja selbst, wie widersprüchlich das ist“, meint Petra. „Ich finde es toll, wenn ich bei andern immer ganz genau weiß, woran ich bei ihnen bin. Ich mag es, wenn jemand klipp und klar sagt: ,Das möchte ich‘, ,Darauf habe ich keine Lust‘ oder ,Da bin ich aber andere Meinung‘. Mag ich diese Menschen deshalb weniger? Ganz im Gegenteil!“

Harmoniesucht in zwischenmenschlichen Beziehungen

Harmoniesucht in der Ehe oder in einer festen Partnerschaft bringt etliche Schwierigkeiten mit sich. Auch wenn ein konfliktscheuer Mensch sich ständig zurücknimmt und seine Gefühle unterdrückt, leidet er meist doch darunter und ist auf Dauer unzufrieden. Unter Umständen kann sich im Laufe der Zeit so viel unausgesprochener Frust ansammeln, dass es eines Tages doch zum großen Knall kommt, für den Partner dann wie aus heiterem Himmel.
Generell fällt es Harmoniesüchtigen schwer, dem anderen Grenzen aufzuzeigen, sie grollen aber insgeheim doch, wenn der Partner aus Unwissenheit diese überschreitet. Für den Partner wiederum ist es schwierig zu erraten, was gerade Sache ist, er tappt permanent im Dunkeln und fühlt sich damit natürlich auch unwohl. Harmoniesüchtige wiederum verlieren den Boden unter den Füßen, wenn es zum Streit kommt und die vermeintlich heile Welt zu bröckeln beginnt. Alles in allem sind das keine guten Voraussetzungen für eine wirklich erfüllte Partnerschaft, in der niemand ausgenutzt wird und emotional auf der Strecke bleibt. Das gilt übrigens auch für Affären. Wer eine Affäre sucht, hat gute Gründe dafür. Zum Beispiel sexuelle Bedürfnisse, die in der Partnerschaft nicht erfüllt werden. Wie soll es dann aber mit der Affäre klappen, wenn man auch dort seine Wünsche nicht äußern kann?

Die gute Nachricht: Harmoniesucht ist heilbar

Und es ist gar nicht so schwer. Wer es trainieren möchte, auch mal Nein zu sagen, sucht sich dafür am besten erst mal ganz harmlose Situationen aus. Zum Beispiel beim Einkaufen, im Kontakt mit Menschen, die fremd sind und auf deren Zuneigung wir nicht angewiesen sind. Einfach mal auf die Frage an der Wursttheke „Darf es etwas mehr sein?“ mit „Nein, danke“ antworten. Das kriegt jeder hin. Und dann langsam steigern. In der Partnerschaft ruhig auch mal eine Konfrontation wagen – davon geht die Welt nicht unter. Reibungen sind wichtig für jede Beziehungen, sie reinigen die Luft und machen es viel leichter, nach einem kurzen Krach wieder zur Tagesordnung überzugehen.
„Ich war so stolz auf mich, als ich es geschafft hatte, meine Meinung mal durchzusetzen“, freut sich Ines (44). „Als ich Jan sagte, dass ich dieses Jahr nicht schon wieder auf die Kanaren will, sondern mir einen Urlaub in den Bergen wünsche, war er zuerst überrascht und maulte auch etwas herum. Als ich aber bei meinem Wunsch blieb, lenkte er ein und konnte der neuen Situation auch schnell Positives abgewinnen. Es fühlte sich supertoll an, auch mal von mir aus Impulse für die Partnerschaft gesetzt zu haben!“

Erst streiten – und sich dann umso schöner wieder versöhnen!

Mit einem zu großen Harmoniebedürfnis ist in der Partnerschaft keinem gedient. Dabei sollten beide Seiten sich um eine Veränderung der Situation bemühen: Wer einen harmoniesüchtigen Partner hat, sollte dessen Hingabe und Freundlichkeit wertschätzen, ihn aber auch dazu ermutigen, öfter seine Meinung zu sagen. Und wer selbst von Harmoniesucht betroffen ist, sollte sich vor Augen führen, dass diese oft sogar eher kontraproduktiv sein kann. Nein sagen kann man üben! Und es zu tun, ist gar nicht schlimm. Meinungsverschiedenheiten gehören schließlich zum Leben einfach dazu, sie bringen uns weiter und stärken unser Selbstbewusstsein. Und sind sie durchgestanden, dann ist die Versöhnung doch auch umso prickelnder!

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