“Moralische Flexibilität”: Warum viele bei einer Affäre kein schlechtes Gewissen haben

Warum geht man fremd? Fast immer entscheiden sich Menschen in einer Beziehung nicht für einen Seitensprung oder eine Affäre, weil sie ihren Partner nicht mehr lieben oder ihm es aus Rache oder Boshaftigkeit heimzahlen wollen. Die Gründe sind vielschichtiger – häufig ist es der Mangel an Aufmerksamkeit und Nähe, die fehlen. Dazu kommen mangelnde Zeit miteinander, ein einseitiges Zuneigungsbedürfnis und die daraus resultierende sexuelle Unzufriedenheit. Schlechtes Gewissen? Seltener, als gedacht …

Einem Seitensprung haftet in der Gesellschaft zu großen Teilen immer noch etwas Verbotenes und Negatives an – auch wenn es in den letzten Jahren vermehrt zu einer Auseinandersetzung und stellenweise Enttabuisierung kam. Dabei wird das Fremdgehen als Scheidungs- oder Trennungsgrund angeführt oder als Begründung für den Egoismus und die Heimtücke des Partners. Doch oft ist es ganz anders, als die landläufige Meinung suggeriert. Nicht gerade wenig Menschen träumen in einer Beziehung regelmäßig von prickelndem Sex mit einem unbekannten Gegenüber und der knisternden Erotik des gemeinsamen Kennenlernens am Beziehungsanfang. Das bedeutet nicht gleich, dass diese Personen auch fremdgehen. Fehlt es jedoch in der festen Partnerschaft dauerhaft an Zärtlichkeiten und Nähe, auch Sex, möchten viele ihre Gedanken in die Tat umsetzen.

Wer geht überhaupt fremd?

Ein weit verbreitetes und klischeehaftes Bild ist der ideale Familienvater und Schwiegermuttertraum, der seine liebende Frau aus heiterem Himmel mit einer Jüngeren betrügt. Dieses Klischee entspricht aber längst nicht immer der Wirklichkeit. Nicht alle Seitenspringer lassen sich unisono mit dem Stereotypen des rücksichtslosen Sexsüchtigen und Egomanen erklären, ganz im Gegenteil.

Bei Robert, 43, war es der Zufall – der allerdings von ihm schon lange herbeigesehnt wurde. Er war bereits sieben Jahre verheiratet und hatte zwei Kinder, als es auf einer Weihnachtsparty passierte. Das knisternde Treffen mit einer Prokuristin, die er beruflich schon länger sah, verwandelte sich in einen hemmungslosen Flirt und eine gemeinsame Nacht in einem kleinen Waldhotel. Im neuen Jahr sah er seine Firmenliebe, die ebenfalls verheiratet war, regelmäßig etwa einmal pro Monat.

Mittlerweile läuft seine Zweitbeziehung seit über zwei Jahren, und Robert ist sehr glücklich damit. Er geht vorsichtig und diskret damit um, daher ist es bisher niemandem aufgefallen. Der Geschäftsmann fühlt sich zufrieden mit seinen beiden Partnerschaften. Er genießt seine Familie und ist stolz auf seine Kinder und das neue Eigenheim. Die fehlende Erotik, die ihm seine Frau schon länger verwehrt, kompensiert er mit seiner Kollegin und „belästigt“ seine Frau nicht mehr damit, wie er selbst sagt, denn manchmal kam er sich schon wie ein ungeliebter Drängler vor, der um Zuneigung und Nähe gebettelt hat – vergeblich. “Ich habe vieles versucht. Meine Frau und ich sind gute Partner, aber zärtliche Intimität geschweige denn Sex bleibt leider außen vor. Unsere Kinder sind schon sehr selbstständig und meine Frau ist oft in ihrem Atelier und ohnehin ständig auf Achse – da ist unsere Beziehung mittlerweile eher von Zweckmäßigkeit geprägt. Diese ist zwar respekt- und liebevoll, aber das ist eine enge Freundschaft ja auch. Ich kann und möchte jedoch nicht dauerhaft auf Sex verzichten.” Ein schlechtes Gewissen habe er dabei nicht, sagt er. “Ich tue alles für meine Familie, aber es ist auch mein Leben und ich möchte dieses eine, das mir geschenkt wurde, eben nicht sexlos verbringen. Nachdem ich so viel zurückgesteckt habe und entgegen gekommen bin, löse ich es jetzt eben auf meine Art.”

Ein Seitensprung als Ausweg aus einer unglücklichen Beziehung?

An diesem Beispiel zeigt sich, dass eine Affäre durchaus eine heilende Wirkung haben und eine gute Ergänzung zu den Belastungen einer Beziehung, Ehe oder Familie sein kann. Die Frage ist nur, ob man damit offen umgeht, oder es lieber heimlich macht. Auch Alexandra, 35, entschloss sich für einen heimlichen Seitensprung.

Die Berlinerin war von ihrem öden Sexleben und der gleichförmigen Partnerschaft mit ihrem Freund enttäuscht. Reine Sexportale und One-Night-Stands mit völlig fremden Männern waren ihr zu gefährlich und anonym, deshalb registrierte sie sich bei einer Online-Partnervermittlung für Seitensprünge.

Der Strom an Zuschriften war enorm, aber sie wählte letztendlich das passende Gegenstück aus, mit dem es schon beim ersten Treffen in einem Café knisterte. Seit eineinhalb Jahren trifft sie den Mann für ihre „persönlichen Verwöhntage mit Herz“, wie sie selbst sagt, und ist seitdem sehr glücklich, ganz ohne schlechtes Gewissen. Mit ihrer Partnerschaft und ihrem ignoranten Freund, hat sie sich dagegen abgefunden – zu schwer lasten diesbezüglich soziale Verpflichtungen auf ihr, so dass sie sich nicht trennen möchte.

Kein schlechtes Gewissen beim Fremdgehen, gibt es das?

Beide äußern ein gemeinsames Merkmal – das fehlende „schlechte Gewissen“, das viele zwangsläufig mit dem Fremdgehen assoziieren. Während Robert zuerst doch ein paar Gewissensbisse gegenüber seiner Frau hatte, die sich aber schnell legten, entschied sich Alexandra bewusst und von Anfang an ohne schlechtes Gewissen beim Seitensprung für diesen Schritt. Beiden war aber bewusst, dass ein Beichten keine Lösung wäre und nur zu unnötigem Stress geführt hätte.

Hier kommen die gesellschaftlichen Konventionen ins Spiel. Die Kirche hat mit ihrem Einfluss in der christlichen Welt das Fremdgehen über Jahrhunderte als „Sünde“ verpönt, die unweigerlich bestraft wird. Auch in der Justiz werden Seitensprünge immer noch gegen den Ausführenden gewertet, ob als berechtigten Scheidungsgrund, als mutwilligen Betrug oder – wie aus vielen Krimis bekannt – als gängiges Mordmotiv. Allein schon deswegen haben viele Menschen ein schlechtes Gewissen beim Fremdgehen, da sie ihn ihren eigenen Augen wider die gesellschaftliche Norm handeln.

Das „Beichten“, wiederum ein Begriff aus der Religion, wird deshalb als einzige Möglichkeit angesehen, eine „Absolution“ erteilt zu bekommen. In der Realität sieht das aber meist ganz anders aus – nicht selten brechen Ehe oder Beziehung nach der Beichte eines Seitensprungs sofort auseinander oder befinden sich in einem schleichenden Auflösungsprozess. Der Betrogene sucht die „Schuld“ für die Tat bei sich, diagnostiziert mangelnde Liebe und ist gekränkt. Der „Täter“ wird nach dem Beichten seines Fremdgehens gezwungen, sich von seiner lieb gewonnenen Affäre zu lösen und fühlt sich daraufhin in seiner eigenen Beziehung unter Druck gesetzt.

Moralische Flexibilität statt Reue und Schuldgefühle

Reue findet sich eher bei einem ungeplanten, spontanen One-Night-Stand auf einer Party, einem Firmenfeier-Flirt oder Besuch in einem Sexclub unter Alkoholeinfluss, wenn man am nächsten Morgen seine vermeintliche “Untat” beichtet. Ein geplantes Fremdgehen dagegen entsteht aus einem lange gehegten Wunsch und dem Bedürfnis nach mehr Sex, Liebe und Aufmerksamkeit und meist vor allem aus einer sich entfremdenden Partnerschaft, aus der man sich aus welchen Gründen auch immer aber nicht lösen will oder kann.

“Man hört das ja so oft, wenn die Rede von Affären ist: Warum trennt man sich dann nicht?” berichtet Frank (57), der seit über einem Jahr eine Affäre hat. “Dass es nicht immer so einfach ist, sich aus einer lang bestehenden Beziehung oder Ehe zu lösen, ist für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Sie können es doch aber auch gar nicht beurteilen, denn es gibt so viele individuelle Faktoren, die ein Zusammenbleiben begründen können. Mich macht es wütend, wenn manche Menschen das alles lapidar über einen Kamm scheren.”

Menschen, die sich zu einer Affäre entschließen, sind keine unmoralischen und skrupellosen Sexmonster, sondern oft verzweifelt und auf der Suche nach einer Lösung, ohne die Beziehung zu beenden. Man kann deshalb von einer „moralischen Flexibilität“ sprechen, bei der sich der Vernachlässigte von den gesellschaftlichen Normen löst und einfach seine chronische Unzufriedenheit (und Unbefriedigung) beenden will.

Aus diesem Grund können viele Menschen, die sich für einen Seitensprung entscheiden, deutlich zwischen Sex und Liebe trennen, weswegen sie auch selten ein schlechtes Gewissen beim Fremdgehen bzw. einer Affäre haben. Sie sehen den Seitensprung nicht als Betrug, sondern als Ergänzung. Den festen Partner kann man auch ohne oder mit wenig Sex über alles lieben und sein Leben mit ihm teilen, während eine Affäre primär das Bedürfnis nach Nähe und Erotik deckt. Das heißt natürlich nicht, dass eine Affäre ein gefühlsleerer Raum ist, aber dennoch fehlen oft wichtige Grundpfeiler, die in einer festen Beziehung dazugehören, sie sind hier aber auch nicht erwünscht.

Diskretes Fremdgehen ohne Beziehungsfrust

Alexandra genießt dieses alte, neue Gefühl, das ihr ihre Affäre bietet, wieder in vollen Zügen und vor allem die neue sexuelle Freiheit im Bett. Ihrer Beziehung hat es in diesem Fall geholfen, sie hat sich innerlich mit der Situation arrangiert und der ewige Streitpunkt, was Aufmerksamkeit und Sex betrifft, hat sich aufgelöst – für  die Lust ist jetzt ihre Affäre da.

Ein Sonderfall ist die offene Beziehung, ein Modell aus Ehe und Partnerschaften, das sich vor allem seit den 1970er Jahren in liberalen, Künstler- und Prominentenkreisen kultiviert hat. Dabei führen ein oder beide Partner bewusst Affären nebenher, bei denen der Partner davon weiß und es offen duldet. Hier entfällt das schlechte Gewissen ohnehin.

Für alle anderen bleibt das Fremdgehen ein Wagnis, aber auch eine große Chance, den Zwängen und Einengungen einer Partnerschaft zu entfliehen, ohne diese aufzugeben. Und solange man Lust und Gefühle sowie beide Beziehungen voneinander trennen kann und die moralische Flexibilität entsprechend greift, muss sich auch kein hemmendes schlechtes Gewissen einstellen. Fakt ist, dass in einer emotional gut funktionierenden, sexuell voll und ganz erfüllenden Beziehung kaum einer dauerhaft heimlich fremdgeht – es sind fast immer besondere Umstände, die zu einem Seitensprung oder einer Affäre führen. Diese sind ganz individuell und verschiedenen, haben jedoch meist gemein, dass sie einen Leidensdruck für die betreffenden Personen darstellen. Durch eine Affäre möchten sie dann ihr unerfülltes Bedürfnis ausgleichen und dadurch die Lebensqualität wieder erhöhen. Deswegen sollte man auch nicht immer vorschnell urteilen und darf es auch tolerieren, dass viele eine Affäre ohne schlechtes Gewissen leben und stattdessen einfach nur genießen.

 


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